Meine Großmutter hatte ein stark ausgeprägtes Wertesystem: Du musst immer fleißig sein, Kind! Sie hat noch im hohen Alter von 90 Jahren bei 30 Grad mittags auf ihrem Feld gearbeitet und stand morgens um 3 Uhr auf, um den Garten zu wässern. Genau das hat sie dann auch von mir erwartet. Neben meiner Familie, Ausbildungen und meiner Arbeit weiterhin fleißig bei ihr und ihrem kleinen Hof zu arbeiten. Die ganze Familie bekam natürlich Erdbeeren, Kartoffel und Hühner von ihr geschenkt. Mir hätte allerdings mehr Zeit für mich und meine Kinder besser getan und auch gefallen.
Damit war ein weiteres Programm gestrickt; ohne Fleiß, keinen Preis. Nur tüchtige Leute bringen es zu was. Nur fleißige Leute sind richtig, gut und wertvoll. Dazu kam noch, dass natürlich keiner sich getraut hätte, meiner Großmutter zu widersprechen. Damit war das Programm in Stein gemeißelt: Zeig Wertschätzung gegenüber der älteren Generation, sei gehorsam und stelle deine eigenen Bedürfnisse immer an die letzte Stelle.
Für meine Mutter war glasklar Sauberkeit und Ordnung an der Tagesordnung. Auch hier hatte sich für mich ein Muster herauskristallisiert: Egal, was auf dem Zettel steht, das Haus muss blinken und überall muss Ordnung vorherrschen. Damit war der Druck vorprogrammiert: Marion, Du musst alles unter einen Hut bringen.
Dadurch, dass meine Mutti sehr zurückhaltend und schüchtern war, habe ich schon als Kind viel Verantwortung übernommen, auch für sie. Als sich meine Eltern sich scheiden ließen, habe ich viele Behördengänge für meine Mutti erledigt, war ihr ein Halt in ihrem Schmerz und habe viel getragen. So lernte ich Verantwortung für Schwache zu übernehmen.
Durch diese Muster und Programme: immer fleißig zu sein, immer besser als andere zu sein, immer alles unter einen Hut zu bekommen, eigene Bedürfnisse zurückzustellen, arbeitete ich rund um die Uhr für meinen Job und meiner Familie. Eigene Bedürfnisse nahm ich gar nicht mehr wahr.
Irgendwann kam ich dann auf die Idee, wer viel arbeitet, der muss auch was für sich tun. Somit fing ich an zu joggen. Ich nahm mir diese Zeit und zog sie einfach vom Schlaf ab. Das war kein wahres Bedürfnis, sondern mein Kopf sagte mir das. Somit joggte ich im Durchschnitt 6 Mal in der Woche, oft um 4 Uhr mit Stirnlampe. Damit war ich dann pünktlich um 8 Uhr bei meinen Kunden oder im Büro.
Da meine Familie mich auch gelehrt hatte diszipliniert in meinem Tun zu sein, war ich diszipliniert in allem, was ich tat. Ich merkte nicht mehr, was mir guttut und was nicht. Mein Verstand hatte die Kontrolle übernommen. Alle bewunderten mich für meine Disziplin. Schon lange ist mir klar, dass diese Disziplin gar keine Stärke, sondern eine Schwäche war. Es bedarf einer guten Wahrnehmung und Selbstreflektion zu erkennen in welchem Kontext was eine Stärke oder eine Schwäche ist.